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Eine Geschichte für dich

  • Autorenbild: sibylle paraquin
    sibylle paraquin
  • 19. März
  • 12 Min. Lesezeit

Heute ist Welt-Geschichten-Tag oder im Englischen World Storytelling Day. Und was gibt es da Besseres, als eine Geschichte für dich?


Seit Anfang der 1990er wird der Tag am 20. März gefeiert und dient eigentlich dem mündlichen Erzählen. Da ich aber gerade erkältet bin, hoffe ich, du freust dich auch über eine Geschichte zum Lesen. Diese kleine Lovestory habe ich für einen Wettbewerb mit dem Motto “love between the pages” geschrieben. Auch wenn ich nicht gewonnen habe, mag ich sie - und du hoffentlich auch. Ich wünsche viel Vergnügen beim der Lektüre!

Hier findest du die Geschichte auch als PDF.




Zwischen uns getauschte Worte


17:50 Uhr

Der Bus schiebt sich langsam durch die Innenstadt. Unter der dunklen Wolkendecke sieht alles grau aus, Häuser, Autos, Menschen. Mist, sie hätte doch laufen sollen. Laia betrachtet die vielen Rinnsale, die sich an der Scheibe hinab arbeiten. Die sind schneller als der Bus.

Die anderen Leute um sie herum sehen alle ruhig aus, scheinen das Dahinschleichen durch den Verkehr stoisch zu ertragen. Laia muss ihr Bein davon abhalten, zu wackeln. Ihre Finger gleiten an ihr linkes Handgelenk, doch der Haargummi fehlt. Stimmt, sie hat sich vorhin die Haare zusammengebunden. Heute ist nicht ihr Tag. Trotzdem darf sie nicht zu spät kommen.


17:55 Uhr

Endlich hält der Bus an ihrer Haltestelle. Als Erste springt sie aus der Tür, drängelt zum ersten Mal in ihrem Leben beim Aussteigen. Ein paar genervte Blicke kann sie am Hinterkopf spüren, ignoriert sie aber.

Sobald ihre Schuhsohlen den Asphalt berühren, rennt sie los. Versucht den Schirm im Laufen aufzuspannen, scheitert, bleibt kurz stehen. Sofort rinnt ihr kalter Regen in den Nacken. Unwillkürlich entweicht ihr ein gequältes Geräusch. Sie wird furchtbar aussehen, bis sie ankommt. Mit diesem Gedanken hält sie inne, starrt auf den Weg vor sich, vergisst kurz den Regen. Was, wenn sie nicht da sein wird? Was, wenn sie da sein wird? Was, wenn sie gleich wieder geht, weil Laia so zerzaust aussieht?

Quatsch! Dafür hat sie jetzt keine Zeit. Kurz schüttelt sie den Kopf, öffnet endlich den Schirm und sprintet wieder los.


17:59 Uhr

Sie stürzt durch die Tür des Ladens, in dem sie feuchte Wärme empfängt. Ihre Brille beschlägt sofort. Todesmutig lässt sie den Schirm im Ständer am Eingang zurück. Bevor sie um die Ecke zur Abteilung mit den Fachbüchern biegt, nimmt sie sich kurz Zeit, wieder zu Atem zu kommen. Für diese Woche muss sie keinen Sport mehr machen. Den Pausenmoment wollen ihre Gedanken sofort dazu nutzen, in negative Gefilde abzutauchen, sie mit Zweifeln und Fragen zu löchern. Schnell umrundet sie die Kochbücher. Ihre Schritte sind überzeugter als sie selbst.


Eine Woche zuvor

In letzter Minute hatte sie sich doch für eine Hose entschieden. Eher weit geschnitten – nannte man das Boyfriend oder so? - dazu ein enganliegendes Oberteil und ihre kurze dunkelrote Lieblingsjacke mit den großen Blumen darauf. Nun hatte sie eine Hosentasche, aus der sie alle zwei Sekunden ihr Handy ziehen konnte.

War Laia am richtigen Ort? Ja, es war eindeutig dieses kleine Café gemeint, in der ganzen Straße gab es kein anderes. Hatte die andere noch was geschrieben? Nein, natürlich nicht. Wie spät war es überhaupt? Sie fummelte an ihrem Haargummi herum, der um ihr linkes Handgelenk lag, um nicht schon wieder nachzuschauen. Sollte sie vielleicht doch ihre Locken zusammenbinden?

„Hey, sorry, dass ich zu spät bin.“

Ulli. Plötzlich stand sie vor Laia. Sie trug ein blaues Hemd mit Kragen, dazu eine schwarze enge Hose und schmale Hosenträger. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, blonden Haare. Wow. Laia sollte was sagen.

„Äh, hey, macht doch nichts.“

Ulli setzte sich ihr gegenüber an den winzigen Tisch. Fast stießen ihre Füße aneinander. Leider nur fast. Sie bestellten, Laia Grünen Tee, Ulli Kaffee. Dann sahen sie sich wieder an. Obwohl es in Laias Kopf ratterte, war er leer, als wären alle Sätze rausgefallen. Ulli grinste.

„Da haben wir uns so viel geschrieben und jetzt schweigen wir?“

Sie blinzelte und sah schnell auf ihre Hände. „Sorry, ich bin manchmal schlecht in so was.“

„Dates?“

„Unterhaltungen.“

Langsam nickte Ulli, als würde sie das verstehen. „Okay, dann verrate mir doch mal, was du gedacht hast, als du mich gerade gesehen hast.“

Sie hatte wieder dieses verschmitzte Grinsen im Gesicht, das Laia schon auf ihrem Profilbild aufgefallen war. In echt wirkte es noch ansteckender. Sie zögerte nicht lange.

„Wow.“

„Mehr nicht?“ Sie schüttelte den Kopf und Ulli lachte laut. Wie sie selbst nahm auch ihr Lachen Raum ein, ganz selbstverständlich. Laia freute sich, dass sie es verursacht hatte. Sie wollte es noch viel häufiger hören.

„Und du?“

„So was Ähnliches. Dass du noch viel besser aussiehst als auf den Fotos.“

Mit aller Kraft versuchte Laia, den Blickkontakt zu halten, lächelte und blickte dann doch woanders hin. Als sie wieder zu Ullis Augen zurücksah, waren sie ganz offen, strahlten vielleicht sogar. Gerade wirkten sie eher Grün als Blau. Was sie wohl über Laias Augen dachte? Nur noch der Hauch eines Grinsens lag auf Ullis Lippen. Moment, warum schaute sie auf ihre Lippen? Schnell hob sie den Blick, wurde wieder von den Augen gefangen genommen.

Plötzlich erschien ein Tablett zwischen ihnen, die Kellnerin verteilte die dampfenden Tassen. Der Bann war gebrochen. Während Ulli Zucker in ihren Kaffee rührte, fragte sie, ob Laia einen guten Tag gehabt hatte.

„Also, in der Arbeit war es hektisch, weil …“

„Moment, eines hatte ich vergessen: Lass uns nicht über die Arbeit sprechen. Das ist im Small Talk immer das Erste, was man sagt. Aber eigentlich ist das doch blöd, das Leben besteht aus so viel mehr als Arbeit.“

„Stimmt eigentlich. Okay, dann belasse ich es bei hektisch. Und mein Tag ging schon doof los, mich hat eine Baustelle geweckt und dann habe ich den Bus verpasst … und ich erzähle nur Quatsch, tut mir leid. Jedenfalls jetzt hier zu sitzen, ist schön.“

„Das finde ich auch.“

Langsam lehnte Ulli sich zurück, weiterhin ein Lächeln auf den Lippen. Laia bewegte sinnlos den Löffel in ihrem Tee und versuchte, sich zu entspannen.

Von da an lief das Gespräch auf einmal von selbst, fast so, wie es online geflossen war in den vergangenen Wochen. Ulli war auf dem Land aufgewachsen, mit drei Bauernhöfen nebenan und zwei Schwestern im Haus. Auf einer Scheunenparty hatte sie zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. Natürlich hinter der Scheune und das Mädchen hatte es zwar eindeutig genossen, am nächsten Tag aber nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie erzählte das unbeschwert und Laia fragte sich, ob nicht mehr dahintersteckte. Sie beschloss aber, heute nicht danach zu fragen.

Ihre eigene Situation versuchte sie möglichst zu umschiffen. „Mein erster Kuss mit einem Mädchen war superkitschig, beim Flaschendrehen …“ Ulli lachte wieder dieses laute Lachen, sodass auch Laia lächeln musste. „Ich bin eine von denen, die lange brauchten, um es zu kapieren. Ich habe also einige Jungs geküsst und nie verstanden, warum das alle so großartig finden. Es war nur nass und wenn sie schon Bart hatten, ziemlich rau … soll ich aufhören?“

Ullis Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, irgendwie verkniffen. Dann prustete sie erneut los, konnte sich nur schwer wieder beruhigen.

„Entschuldige, das muss damals echt ätzend gewesen sein, aber die Art, wie du das erzählst, ist einfach unfassbar komisch.“

„Rückblickend ist es witzig. Damals kam ich mir … so falsch vor, so anders als die anderen Mädchen …“

Warme, trockene Finger schlossen sich um ihre linke Hand. Laia hatte das gar nicht sagen wollen, hatte die lustige Geschichte weitererzählen wollen. Doch irgendwas an Ulli machte es ihr schwer. Sie konnte nicht so oberflächlich bleiben wie sonst. Als schauten Ullis Augen tief in sie hinein.

„Das ging mir genauso“, sagte Ulli leise. „Im Dunkeln mit Alk war ich super, aber bei Tageslicht plötzlich nicht mehr. Als wäre ihnen aufgefallen, dass ich eigentlich kein Mensch wäre oder so.“

Kurz hielt Laia den Moment, den Blick, genoss, dass diese Gefühle bei einem ersten Date möglich waren, dass sie das teilen konnten. Dann fragte sie sanft: „Und wann kam dann das erste Mädchen, das dich als Mensch gesehen hat?“

Sofort hoben sich Ullis Mundwinkel. „Kurz vor dem Abi, die ältere Schwester von irgendwem. Sie ging auf die Uni in einer großen Stadt, entsprechend war sie einfach megacool. Alle Jungs wollten sie beeindrucken. Es war herrlich, wie sie alle hat abblitzen lassen. Ich bin ihr wie ein Hündchen nachgelaufen. Wirklich peinlich, aber sie war die Erste, die … sie zeigte mir, dass man so sein konnte.“

Wieder ein tiefes Schweigen, ein Erinnerungsschweigen.

„Und was hat sie dir noch gezeigt?“

„Alles. Wir haben uns zwar zum ersten Mal auch auf einer Party geküsst, also richtig rumgemacht eigentlich. Aber am nächsten Tag war ich bei ihr und dann haben wir miteinander geschlafen und es war einfach nur wundervoll.“

„Und bei Tageslicht.“

„Genau.“

Sie lächelten sich an und plötzlich wollte Laia sie so unbedingt küssen, dass es ein bisschen wehtat. Ein sehnsuchtsvolles Ziehen in ihrer Brust. Sie spürte Nähe zu Ulli. Ein Gefühl, das sie über Jahre vermisst hatte.

Ulli brach den Blickkontakt und die Stille. „Ich habe eine Idee und bin gespannt, ob du Lust darauf hast.“

Wieder musste Laia kurz blinzeln, um aufmerksam zuhören zu können. Sie nickte, damit Ulli wusste, dass sie weitersprechen konnte. Das Ziehen verschwand nicht vollständig.

„Okay, pass auf: Um die Ecke ist eine Buchhandlung. Die hat noch knapp vierzig Minuten geöffnet. Meine Idee ist, dass wir dorthin gehen und uns gegenseitig ein Buch aussuchen.“

Laia verengte die Augen und hob dann eine Augenbraue. „Ist das ein Test?“

„Vielleicht ein kleiner.“ Zusätzlich zum Grinsen zwinkerte Ulli auch noch. Wie konnte sie dabei nicht vollkommen lächerlich wirken? Achso, ja, der Test. Mit Absicht dachte Laia nicht weiter darüber nach.

„Klingt gut.“

Zehn Minuten später betraten sie die Buchhandlung und wie jedes Mal ließ allein der Buchduft Laia ruhiger werden. Ulli zog direkt los, also tat Laia es ihr gleich.

Eigentlich wusste sie genau, welches Buch sie ihr geben wollte. Doch die Zweifel meldeten sich. Zusammen mit einer Frage zu den Regeln. Schnell blickte sie sich nach Ulli um, damit sie ihr die noch stellen konnte. Sie fand sie bei den englischen Büchern. Ulli grinste.

„Dann sind Bücher auf Englisch also okay für dich.“

Als Antwort genügte ein Lächeln, dann vertiefte sich Laia in die Auswahl. Ihr Wunschbuch stand tatsächlich im Regal, leuchtete Orange zwischen den anderen. Es schien sie förmlich zu rufen. Aber war das nicht zu hart? Das hier war immer noch ein erstes Date, verdammt. Auch wenn es sich absolut anders anfühlte.

Laia stromerte unentschlossen zwischen Regalen und Tischen herum, zu den deutschsprachigen Romanen, kurz zu den Jugendbüchern. Es war ruhig im Laden. Die Mitarbeitenden räumten langsam zusammen, stellten leere, gestapelte Kisten in einen der Gänge. Niemand sprach sie an, eine Buchhändlerin nickte ihr kurz zu. Die ganze Zeit schien ihr Buch sie zu verfolgen, sie spürte immer, wo es war.

Ach, was soll’s. Keines der anderen Bücher hatte sie so angesprochen. Entschlossen ging sie zurück und zog das orange Buch aus dem Regal. >In the dream house< stand auf dem Einband. Sie erinnerte sich kurz an ihre Lieblingsstellen und widerstand dem Drang, es aufzuschlagen. Alles oder nichts.

Sie bezahlte. Scheinbar war Ulli schneller gewesen, denn sie wartete bereits in der Nähe der Tür. Laia folgte ihr nach draußen. Es war beinahe dunkel geworden, ein letzter heller Streifen leuchtete am Horizont. Unschlüssig stand sie Ulli gegenüber, die keine Anstalten machte, ihr das Buch zu überreichen.

„Meine Idee, oder der Test“, sie betonte das Wort und grinste, „geht ehrlich gesagt noch weiter. Ich gebe dir gleich mein Buch und du mir deins. Wir erzählen uns nicht, warum wir sie ausgewählt haben. Und dann nehmen wir uns eine Woche Zeit, um die Bücher zu lesen. In der Woche schreiben wir nicht miteinander.“

Unwillkürlich hob Laia die Augenbrauen. Eine Woche erschien ihr lang. Aber Ulli war noch nicht fertig. „In genau einer Woche treffen wir uns wieder hier, um fünf, hinten bei den Fachbüchern. Aber nur … wenn uns das Buch gefallen hat.“

Im Film hätte es jetzt dramatische Musik gegeben, doch Laia hing noch am Satz davor.

„Fünf schaffe ich nicht, ich muss arbeiten.“

„Ach, arbeiten, dann musst du das halt mal nicht.“

Dieses Mal perlte Ullis Grinsen ohne Effekt an Laia ab.

„Ich kann mir das nicht aussuchen. Wenn ich nicht arbeite, muss ich das hier“, sie hielt das Buch hoch, „gleich wieder zurückgeben.“ Dass sie so gut wie alle Bücher in der Bibliothek auslieh, behielt sie für sich. In ihrem Regal standen nur ihre liebsten, viele als Mängelexemplare.

Ullis Augen waren groß, die Augenbrauen hochgezogen, sie sprach schnell. „Bitte entschuldige, ich … das war dumm von mir.“

Kurz ließ Laia sie schmoren, ihren Blick immer verzweifelter werden, dann nickte sie. Ulli atmete laut aus und fand nicht ganz zu ihrem Lächeln zurück.

„Okay, dann nächste Woche wieder hier um sechs?“, erneut nickte Laia, „Gut. Bei den Fachbüchern für Medizin. Wenn uns das Buch gefällt. Wenn nicht, kommen wir auch nicht.“

Laia schluckte. „Das ist aber dann kein kleiner Test mehr.“

„Nein, vielleicht nicht.“

Ulli trat auf sie zu, ganz nah, ein Duft von Zitrusfrüchten hüllte Laia ein. Direkt neben Laias Ohr flüsterte sie: „Aber ich bin sicher, dass du ihn bestehen wirst.“

Ihr Atem hauchte an Laias Hals und verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie könnte Ulli jetzt einfach küssen, nur Zentimeter trennten sie. Ob ihre Lippen nach Zitrone schmeckten? Oder immer noch nach Kaffee? Doch schon war Ulli wieder einen Schritt zurückgegangen, hatte ihren Duft und ihre Wärme mitgenommen.

Mit großer Geste hielt Ulli ihr ein Buch mit buntem Cover hin. Sie nahm es und überreichte ihrerseits das orange Buch. Da Ulli nicht auf den Titel sah, tat sie es auch nicht.

„Ich freue mich darauf, wenn wir uns nächste Woche wiedersehen. Danke für die schöne Zeit heute.“

„Ja, äh, dir auch, danke. Bis dann.“

Bevor Laia noch etwas sagen oder denken konnte, drehte Ulli sich um und ging.

Laia blieb stehen, sah ihr nach, bis sie um eine Ecke verschwunden war. Dann blickte sie auf das Taschenbuch in ihren Händen. In gelben Großbuchstaben stand dort >JUST AS YOU ARE<.


18:05 Uhr

Laia steht vor dem Regal, über dem groß das Wort Medizin prangt. Viele grüne Buchrücken stehen darin, ordentlich aufgereiht scheinen sie sich von ihr abzuwenden.

Hier, in der hintersten Ecke des Ladens, ist niemand. Nicht an dem langen Tisch, nicht in einem der Sessel. Noch mal schaut sie auf ihr Handy, das Datum, die Uhrzeit, öffnet den Chat in der Datingapp, falls Ulli ihr doch geschrieben hat. Nichts. Sie versucht, die Titel der Bücher zu lesen, doch kein einziges Wort dringt bis in ihr Gehirn durch. Wieder blickt sie suchend um sich. Geht ein weiteres Mal um das Regal herum. Nichts.


18:10 Uhr

Den Tränen nahe sitzt sie in einem Sessel, lässt das Medizinregal nicht aus den Augen. Sie geht zum zweiten Mal alles durch. Jedes Wort, das sie gesagt hat, das Ulli gesagt hat, jede Geste, jeden Blick. Es war doch alles da gewesen! Zwischen ihnen war doch alles gewesen, was sie sich für ein Date wünschen konnte, eigentlich sogar noch mehr. Sie hatten über Erlebnisse und Gefühle gesprochen, so nah, als kannten sie sich ewig. Deshalb hatte es sich so gut angefühlt: Neu und vertraut zugleich. Laia hatte die ganze Woche in dem Gefühl gelebt, sich fallen lassen zu können, Ulli vertrauen zu können. Auch das Buch, das Ulli ausgewählt hatte, hatte sie doch bestimmt wegen des Happy Ends genommen. Oder nicht?


18:19 Uhr

Zu viel. Das ist zu viel. Laia gibt auf. Sie hält die vielen Gedanken und Gefühle in sich nicht mehr aus. Alles soll raus und ihr ist klar, dass es dafür Tränen braucht. Aber nicht hier. Sie atmet tief durch und erhebt sich. Langsam geht sie durch den Laden, nicht einmal die vielen Bücher können sie trösten. Als sie an der Kasse vorbeitrottet, steht dort eine Buchhändlerin, die ihr vom letzten Mal bekannt vorkommt. Laia schaut sie nicht an, steuert auf den Ausgang zu. Bitte nicht ansprechen. Aus den Augenwinkeln nimmt sie wahr, dass die Frau einen Arm hebt.

„Halt, warte mal kurz. Du bist Laia, richtig?“

Nein, bitte, lass mich einfach nur gehen. Aber wenn die Frau ihren Namen kennt … Laia nickt und sofort erscheint ein Lächeln auf dem Gesicht der Frau. „Bitte entschuldige, ich hatte dauernd Kundschaft und konnte nicht zu dir gehen. Man sollte meinen, um diese Zeit wäre nicht mehr so viel los.“

Während sie spricht, kramt sie unter dem Tresen herum. Dann zieht sie ein rechteckiges Teil hervor, eingewickelt in Geschenkpapier. Unter dem Band ist ein Umschlag, auf dem „Für Laia“ geschrieben ist. Völlig verwirrt nimmt sie es entgegen. Klare Gedanken haben sie verlassen.

„Danke.“

„Gern. Bitte, sei ihr nicht böse, es steht alles in dem Brief.“

Wieder nickt Laia nur und möchte weitergehen. Doch draußen regnet es. Sie schaut den Regen an, dann schaut sie auf das Geschenk in ihrer Hand und dreht sich halb wieder um.

„Vielleicht setzt du dich einfach in unser Café?“


18:26 Uhr

Auf einem Tisch, der fast vollständig von einer Säule verdeckt wird, liegt das Geschenk. Laia klammert sich an ihre Teetasse und starrt es an. Kommt sich komplett bescheuert vor. Sie ist doch keine Figur in einem Buch! Sie sollte einfach gehen, sich nicht auf noch mehr blöde Spielchen einlassen. Hat sie sich so sehr in Ulli getäuscht?

Dann schüttelt sie den Kopf, stellt die Tasse ab und öffnet den Brief. Die Handschrift ist etwas krakelig, gehetzt und doch mühevoll. Schnell, bevor sie es sich noch mal überlegen kann, beginnt sie zu lesen.

Hallo Laia, es tut mir so leid! Ich möchte jetzt viel lieber mit dir bei den Fachbüchern stehen. Über dieses umwerfende Buch reden, das du mir geschenkt hast. Jedes Kapitel hat mich auf eine andere Art umgehauen. So wie du. Leider ist meine Mutter im Krankenhaus. Es wird wieder alles gut, aber ich verbringe jede freie Minute bei ihr und bin deshalb nach Hause gefahren. Zum Glück habe ich in der Buchhandlung so spontan freinehmen können. Wenn du das hier liest, hat Karla dir wie versprochen das Buch übergeben. Es ist mein Lieblingsbuch und soll dir Gesellschaft leisten, bis wir uns wirklich wiedersehen können. Aber weil mich das ein bisschen eifersüchtig macht, findest du unten meine Handynummer. Wenn du mich jetzt nicht hasst, würde ich sehr, sehr, sehr gern von dir hören. So eine verrückte Geschichte, oder? Kuss, Ulli


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