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Gelber Mantel (nicht sehen)

Autorenbild: sibylle paraquinsibylle paraquin

Die Luft roch nach feuchtem Stoff (erstickend). Schwerfällig schob sich der Bus durch den Stadtverkehr, draußen zogen Grau, Nass und Windig vorbei. Ich saß im hinteren Teil und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. Hinter mir lagen ein voller Tag, eine volle Woche, alles in mir schrie nach Ruhe, nach auf dem Sofa einrollen. Bis dahin übernahm die Musik in meinen Kopfhörern die Aufgabe, mich von der Außenwelt abzuschotten.

Nur aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung. Mühevoll drehte ich den Kopf. Ein gelber Mantel. Nicht grell wie ein Textmarker, in einem angenehmen Herbstgelb und doch leuchtete er neben dem trostlosen Rest. Er wurde getragen von einer jungen Frau, die in dem Rund stand, das die Mitte des Busses mit dem Faltbalg bildete. Und sie sah zu mir. (vermutete ich)

Kurz drehte ich mich nach hinten (war dort ihr Gegenüber?), dann wieder zu ihr. Sie lächelte (es sah zumindest so aus). Unwillkürlich senkte ich den Blick, lächelte ebenfalls. Als ich mich vorsichtig traute, den Kopf wieder zu heben, war ihr Lächeln noch breiter und sie nickte mir zu (das war doch ein Nicken?). Ihre Augen konnte ich nicht erkennen (wohin ging ihr Blick?). Meine Gedanken prügelten sich.

(Wenn sie nicht dich meint, kannst du einfach an ihr vorbeigehen – aber peinlich wird es trotzdem – und wenn sie tatsächlich dich meint? - wie hoch ist bitte die Chance, dass eine schöne Frau im Bus auf Frauen steht! Und auf dich, haha)

Noch während sich die verschiedenen Stimmen anschrien, stand ich einfach auf, wie beim Pflaster abziehen. Schon war ich vor ihr, völlig unvorbereitet, ein großes „Ähm“ drängte sich hinter meinen Lippen.

„Hi, ich bin Su. Suheyla.“

„Hallo. Anna.“ (Eloquent wie immer)

Ich bestaunte einfach nur ihre Schönheit und die Tatsache, dass sie tatsächlich mich gemeint hatte (scheinbar). Schwarze Haare fielen ihr auf die Schultern, über einen flauschig-grauen Schal, der ihr längliches Gesicht einrahmte. Ihre Augen waren hell und strahlten mich an.

„Kann es sein, dass ich dich in der Uni schon mal gesehen habe?“

„Nein, ich studiere nicht.“

„Sondern?“

„Äh, ich bin Verkäuferin in einem Laden für Elektronik.“

„Puh, da kommt das Weihnachtsgeschäft gerade richtig auf dich zu, oder?“

„Ja, sehr, ist anstrengend. Aber mit den Prüfungen ist es bei dir dann sicher auch so?“

Ich konnte also doch Gegenfragen stellen (mega). So erfuhr ich, dass sie Biologie studierte und im Nebenjob kellnerte. Was uns beiden mehrere Geschichten über schreckliche Kundinnen und Gäste entlockte. Je länger ich sie dabei ansah (weil nah genug dran), desto mehr Details konnte ich entdecken. Ein kleines Muttermal unterhalb ihres rechten Mundwinkels, dass ihre Nase etwas größer war, als erwartet, dass ihre Haarspitzen heller waren als der Rest. Und ihr Lächeln (jetzt richtig). Anziehend. Wie Sirenen schienen ihre Lippen die meinen zu rufen und es war schwer zu widerstehen. Eine Pause, ihre Story war zu Ende und ich grinste als Antwort (sag halt was). Fieberhaft rotierten die Gedanken auf der Suche nach einem Thema. Sie kam mir zuvor.

„Kaffee?“

„Ja, wann?“

„Jetzt.“

Sie drückte den Halteknopf (weiß sie, wo wir sind?). Wir stiegen aus und fanden ein neues, kleines Café. Mein Körper schrie (müde!), doch die Aufregung überdeckte alles. Auf der anderen Seite der Tür empfingen uns Kaffeeduft und Wärme, die direkt meine Brille beschlagen ließ. Zum Glück sah ich mit genauso wie ohne, zwar schlecht, aber genug für den Alltag (haha, genug). Zielstrebig ging sie durch den Raum zu einem dunkelblauen Sofa. Ich wählte den Stuhl ihr gegenüber. Es fühlte sich völlig normal an, hier mit ihr zu sitzen, gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mich selbst dabei zu beobachten.

„Magst du Kaffee überhaupt?“

„Nein“, ich musste lächeln, „Aber wo es Kaffee gibt, ist heiße Schokolade nie fern.“

Sie nickte, ebenfalls breit lächelnd und vertiefte sich dann in die Speisekarte. Ich musste mich entscheiden zwischen lesen und sie ansehen (immer schön nah an den Text, wenn du ihn lesen willst). In allem, was sie tat, schien sie ganz sie selbst zu sein, ohne sich zu fragen, was Andere denken würden. Vielleicht war das auch Quatsch, aber unwillkürlich fragte ich mich, wie sie das hatte erreichen können.

Die Kellnerin unterbrach meine Gedanken. Als wir bestellt hatten, nutzte ich den Moment, um mich umzusehen und die Gemütlichkeit in mich eindringen zu lassen. Sanfte Musik im Hintergrund, eine ältere Dame las ein Buch, ein junger Mann hatte seinen Laptop aufgeklappt und kaute an einem großen Stück Kuchen. Gerade als die Entspannung langsam in mir emporkroch, fiel mir wieder ein, dass ein Gespräch vielleicht eine sinnvolle Idee wäre.

„Fotografieren.“

Su kniff die Augen leicht zusammen und zog eine Augenbraue nach oben (wie cool konnte diese Frau noch werden?).

„Also, das ist mein Hobby. Und deins?“

„Ah, das war ein Gesprächseinstieg, verstehe.“ Ein Lachen, dessen heller Ton ganz anders war als ihre tiefe Stimme. Es brachte alles in mir zum Klingen. Sie kramte in ihrer Tasche und setzte dann einen kleinen Vogel aus Papier auf den Tisch zwischen uns.

„Origami. Es hilft mir, in den Vorlesungen konzentriert zu bleiben, weil meine Hände etwas zu tun haben, wenn ich nicht mitschreibe.“

„Cool. Das ist ein Kranich, oder?“

Sie nickte und sah dann auf, da die Kellnerin mit zwei großen Tassen zurückgekehrt war. Als diese vor uns dampften, konnte ich meine innere Klugscheißerin nicht mehr zurückhalten.

„In Japan sind die ein Symbol des Friedens.“

„Echt? Wieso das?“

„Es gibt dort die Legende, dass Kraniche tausend Jahre leben und wenn man tausend Stück faltet, erfüllt sich ein Wunsch. Sadako, ein kleines Mädchen aus Hiroshima hat das getan, als sie wegen der Atombombe an Leukämie erkrankte. Es hat ihr nicht geholfen, aber seitdem werden Kraniche gespendet und im Peace Park ausgestellt. Wenn sie verwittern, wird der Wunsch nach Frieden in die Welt hinausgetragen.“

Schweigen. (Toll, Stimmung ruiniert) Ich unterdrückte ein Augenrollen über mich selbst.

„Das hat die Stadt Hiroshima aber nicht verbittern lassen, sie haben sich dem Auftrag verschrieben, Frieden in die Welt zu bringen. Und ich höre jetzt einfach auf zu reden.“

„Nein, das war interessant. Ich musste nur gerade an meine kleine Schwester denken, weil ich sie vermisse.“

Mit großen Augen starrte ich sie an (kein Fettnäpfchen, ein ganzer Fettpool). Als Suheyla den Blick wieder von ihrer Tasse hob, erschrak sie, dann stieß sie ein kleines Lachen aus.

„Nein, alles gut, sie lebt und ist auch nicht krank. Wir sehen uns nur einfach viel seltener, seit ich nicht mehr zu Hause wohne.“

Hörbar atmete ich aus und trank schnell einen großen Schluck. Sie war immer noch ein wenig amüsiert.

„Okay, wir machen es einfach so: Der Kranich ist für dich, ein Geschenk. Und ich leite jetzt ganz geschickt zu einer anderen Frage über: Es klingt, als wärst du schon mal in Japan gewesen?“

Nun beruhigt bedankte ich mich und dann sprudelte es direkt aus mir heraus. Über Japan und meinen Urlaub dort konnte ich ewig sprechen, weil mich dieses Land so faszinierte. (schon wieder zu viel, halt endlich die Klappe)

„Warst du schon mal in einem Land, das dich begeistert hat?“

„In der Oberstufe konnte ich ein halbes Jahr nach Island, das war toll.“

Schon hatten wir Rollen getauscht, denn Suheyla schien es genauso zu gehen wie mir, ihre Sehnsucht nach Island war spürbar. Ich fragte mich, ob sie beliebt war, damals und jetzt. Ich selbst war nicht besonders selbstbewusst, nicht besonders begabt, nicht besonders. Doch jetzt und hier hatte ich das Gefühl in ihrem Licht zu strahlen.

„Findest du nicht auch?“

„Was?“

„Du hast mir nicht zugehört.“

„Entschuldige. Ich habe dich angesehen.“

„Und das war so faszinierend? Das würde mich aber überraschen.“

„Dann sei mal überrascht.“

Fast schüchtern richtete sie ihren Blick auf ihre Tasse, strich sich die Haare hinter das linke Ohr, was einen kleinen, blauen Schmetterling entblößte.

„Was kann ich dafür, wenn man sich in deinen dunklen Augen so verlieren kann.“

Und so schnell war es an mir, verlegen zu sein. Ich rührte in meiner Tasse, als ich an meiner Hand eine Berührung spürte, zaghaft, fragend. Ohne aufzusehen, schloss ich meine Finger um ihre, Bestätigung.

Kurzentschlossen stand ich auf und setzte mich neben sie auf die Couch (so mutig heute), ohne ihre Hand loszulassen. Aber auch ohne Suheyla anzusehen. Mein Magen vibrierte vor Aufregung. Wir waren an einem öffentlichen Ort und doch wusste ich genau, dass ich sie küssen würde, sobald unsere Augen sich wieder treffen würden. Aber ich traute mich nicht (könnte ja sein, dass ich mir diesen Flirt nur einbilde). Ihre warme Hand an meinem Kinn nahm mir die Entscheidung ab, drehte mein Gesicht sanft zu sich.

„Darf ich?“ Ein Flüstern nur, wie ein Windhauch.

Antwort wurden meine Lippen auf ihren, die so weich waren, so gut schmeckten, nach Kaffee, nach Unentdecktem. Ich vergaß, wo ich mich befand, mein Universum schrumpfte auf uns beide zusammen, auf die Wahrnehmung von Lippen und Zungen und Händen.

Plötzlich strich eine harte Ecke an meinem Kopf entlang. Ich öffnete die Augen und sah gerade noch, dass es eine große Handtasche war. Feuchter Stoff, Motorgeräusche, Grau. Suheyla, nein, die junge Frau im gelben Mantel stand in der Mitte des Busses, sah in meine Richtung. Nun ging sie sogar den Gang entlang, auf mich zu (in welcher Geschichte bin ich?). Sie begrüßte jemanden, als sie sich an der Tür trafen und gemeinsam ausstiegen. Ich konnte sehen, wie sie draußen einem großen Kerl in die Arme flog und ihn küsste. Türenschließen. (Arschkarte)



Bildquelle: https://www.kater-paule.de/goldenes-stueck/







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