Als ich das Headline-Gedicht fertig hatte, lag da eine Geschichte drunter. Schon beim Bauen des Gedichts sah ich diese vor mir und schließlich wollte sie noch nach draußen. Hier ist sie nun. Der Text war auch der erste, den ich auf einer Lesung vortragen dürfte.
jetzt
Auch wenn ich sitze, spüre ich das Beben unter den Füßen. Es herrscht Stille um mich, es ist Nacht, auch wenn man das hier nicht wirklich unterscheiden kann. Man merkt es nur daran, dass alle anderen in ihren Wohneinheiten sind, die Türen zu, niemand läuft geschäftig herum. Da ist natürlich das stetige Brummen, das ich längst nicht mehr höre. Die Schönheit der Rotation. Sie hält uns am Leben, hier oben zwischen den Sternen. Gleich einem Hauch von nicht vorhanden sind wir doch hier, mitten in der Unmöglichkeit. Das war es, was mich an ihm von Anfang an fasziniert hatte.
damals
Der Ort, den ich früher mein Zuhause nannte - eigentlich nur, weil ich zufällig dort geboren worden war - lag tief unter der Erdoberfläche. Wenn man einen kompletten Planeten zerstört, muss man eben sehen, wo man als Menschheit bleibt. Man teilte sich: Silos unter der Erde, Raumstationen im Orbit. Die wenigsten flogen weit weg und so kreiste immer eine Schar von ihnen nah am Heimatplaneten. Angeblich konnte man sie von der Oberfläche aus sehen, wenn der Himmel sich punktuell zeigte. Diese Geschichten waren allerdings sehr zweifelhaft. Niemand traute sich wirklich auf die Oberfläche. Ich frage mich warum man es nicht in den Weiten des Weltalls versucht hat, es ist ja nicht so, als würde man ständig kleine Wochenendtrips zur Erde machen. Vielleicht sind diejenigen, die es gewagt haben, aber auch nur in Vergessenheit geraten. Die Vorstellung, dass sie irgendwo einen neuen Planeten gefunden haben, zerreißt mich manchmal vor Sehnsucht.
Das Silo, in dem ich lebte, war eines der besseren. Es gab Wohnungen, genug Nahrung und genug zu tun. Niemand wurde wahnsinnig und begann, seine Nachbarn zu essen. Zumindest nicht soweit wir wussten. Meine Familie war groß, Onkel, Tanten, deren Kinder, viele Geschwister und meine Mum, die ihr Bestes getan hat, das doch nicht genug war. Alles war immer knapp, irgendwer immer krank oder hungrig. Nur dank einer Tante, die einen hohen Posten in der Verwaltung hatte, konnten wir eine Wohnung ergattern, die groß genug war für alle. Es herrschte nicht direkt Not, denn man erweiterte das Silo stetig, doch alle in meiner Familie hatten das Bedürfnis zusammen zu wohnen. Etwas, das ich nie hatte nachvollziehen können. Als Kind, da muss ich etwa zwölf gewesen sein, war ich hinter den anderen zurückgeblieben, weil ich eine offene Tür bemerkt hatte. Ich folgte dem Licht, das aus dem Spalt drang und stand in einem winzigen Raum, ein Bett in der Ecke, eine Küchenzeile, eine Duschkabine nebst Waschbecken mitten im Zimmer. Es war so wenig, fast nichts und doch glaubte ich mich im Paradies. Hier lebte noch niemand und ich stellte mir vor, einfach meine wenigen Sachen zu holen und hier zu bleiben. Es war mein ältester Bruder, der mich fand und direkt nach Hause schleifte. Solange ich nichts zur großen Gemeinschaft beitragen konnte, würde dies nichts als ein unerfüllter Traum bleiben.
dazwischen
Unsere Ankunft auf diesem schwebenden Haufen Metall war geprägt von Erschöpfung. Ich nahm nichts so richtig wahr, fiel einfach ins Bett. Doch der nächste Morgen fühlte sich an wie Weihnachten in den vielen Geschichten von früher klang. Aufregung erfüllte mich, als ich den Schlaf abgeschüttelt hatte und mich umsah, diesen Raum, der nun unserer war, in mich aufnahm. Alles dunkelblau, Boden, Decke, Wände, durchsetzt mit silbernen Elementen. Die Möbel wirkten, als wären sie aus der Umgebung herausgewachsen. Unser Bett stand in einer eigenen Nische, durch deren Eingang ich den Wohnraum und ein Stück der Küche sehen konnte. Das Oberlicht wurde langsam heller, gelbes, warmes Licht, das an die Sonne erinnern wollte. Durch ein winziges, rundes Fenster sah ich die Schwärze des Himmels. Sofort verwirrte dieses Bild meine Instinkte, sodass ich den Blick abwandte.
Wir hatten es geschafft. Obwohl es kein Geld mehr im eigentlichen Sinne gab, teilten sich die Menschen dennoch weiterhin in zwei Gruppen: Die einen hatten mehr von allem, die anderen weniger. Durch meine Einsamkeit, wegen der ich mich früh und intensiv dem Lernen zugewandt hatte, war ich sehr nützlich für die Gemeinschaft gewesen. In Kombination mit dem Charisma an meiner Seite und der Tatsache, dass viele einflussreiche Männer einen schönen Künstler wie ihn verehrten, hatten wir den Weg bis hierher gehen können.
Er lag neben mir, ruhig schlafend, selbstvergessen. Ich konnte kaum glauben, dass dieser Mann mich mit sich genommen hatte, dass er ein Leben mit mir wollte. Zu ihm zu gehören, war ein noch immer fremdes Gefühl, dem mein Inneres weiterhin misstraute. Mein Herz füllte es allerdings vollkommen aus.
damals
Ich passte nicht dazu und meine Geschwister zeigten mir das jeden Tag. Ich wurde am Frühstückstisch ignoriert, ging immer ein paar Schritte hinter den anderen die vielen Stockwerke nach oben in die Schule. Als wäre eine dunkle Aura um mich, befreundete sich auch sonst niemand mit mir. Vielleicht war die Meinung meiner vielen Geschwister, Cousinen und Cousins auch einfach zu allgemeingültig. Immerhin wurde ich nicht fertig gemacht, ich war einfach nicht da. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran. Meine Freunde wurden die Geschichten, die wir auf unseren Tablets lesen konnten. Je älter ich wurde, desto mehr Möglichkeiten gab es mir, denn niemandem fiel auf, wann ich nach Hause kam oder wohin ich ging. So konnte ich Stunden damit verbringen, die unteren Regionen des Silos zu erkunden, versteckte Lieblingsplätze zu finden und mich mit den Mechanikern anzufreunden, die unsere Behausung in Gang hielten.
Was genau an mir nicht passte, war mir lange nicht klar. Bis ich eines Nachts, im Brummen der Motoren und dem rötlichen Schein des Brennofens, einen anderen Jungen küsste und nicht mehr aufhören wollte. Er auch nicht. Aus uns beiden brach ein Begehren, das wir nicht kannten, nicht benennen konnten und das doch so vertraut war. Es rastete etwas ein, das uns befreite, das eine Tür in unserem Inneren aufstieß, die sich nie wieder würde schließen lassen. Mit wunden Lippen und dem ziehenden Verlangen im Körper schlich ich kurz vor dem Morgen in mein Bett, das Grinsen verließ mein Gesicht nicht.
Bis ich ihn im künstlichen Licht unseres konstruierten Tages wiedersah. Es blitzte in seinen Augen, meine eigene Anziehung gespiegelt, doch sofort niedergerungen, als ihm klar wurde, dass ihn das ebenfalls zum Außenseiter machen würde. Er senkte den Blick, kehrte mir den Rücken und lief seinen Freunden hinterher. Ohne Worte wusste ich, was das bedeutete. Ich war wieder allein. Bei allem, was wir als Menschheit erlitten hatten, waren es noch immer solche Kleinigkeiten, die Konflikte verursachten. Aber was erwartete ich auch von einem Menschenschlag, der seit Ewigkeiten kein echtes Licht mehr gesehen hatte.
Diese Nacht machte trotzdem alles leichter. Ich wusste endlich, warum ich nicht dazugehörte und konnte gut damit leben. Besonders, als ich andere wie mich fand. Wir hatten eine eigene, geheime Sprache, Zeichen, die deutlich machten, dass man die Leidenschaft teilte, dass man eine Nacht gemeinsam verbringen wollte. Ob alle anderen sie tatsächlich nicht bemerkten oder absichtlich darüber hinwegsahen, weiß ich nicht. Niemand sprach darüber, niemand traute sich. Mein Wissen über die vielen Verstecke kam mir nun zugute. So viele Orte, an denen man den anderen schmecken konnte, eilig, drängend, nie ohne Angst erwischt zu werden. Erst als ich älter wurde, traf ich Männer mit eigenen Wohnungen. In manchen bin ich mehr und länger versunken als in anderen und doch zogen sie alle irgendwie nur vorbei.
Ich lernte viel über mich, über die Rollen, die Menschen mochten und wie man sie spielte. Ich wurde 22 Jahre alt und wusste sehr genau, wie meine Maske aussehen musste, um selbst meine Mutter zu täuschen.
Dann traf ich ihn. Manchmal, selten eigentlich, kamen Gäste vorbei. Zwischen einigen Silos gab es ein System, durch das man sich besuchen oder versorgen konnte. Er war Teil einer Gruppe - oder sagen wir, er war bei einer Gruppe - die aus einem anderen Silo zu uns gekommen war. Offenbar einem noch besser ausgestatteten, sie brachten Medikamente mit und wurden wie Helden empfangen. Alle scharten sich um sie, wollten Neuigkeiten und Geschichten hören. Er hielt sich abseits, beobachtete, sprach mit niemandem. Dafür trug er immer ein kleines Buch bei sich und zeichnete. Seine Haare schienen zu leuchten, sein drahtiger Körper wirkte scharfkantig, seine Augen erinnerten mich an die Bilder, auf denen ich etwas gesehen hatte, das man Wald nannte. Unverfroren emotional.
„Das ist alles großer Bullshit.“ Sein erster Satz, nachdem ich längere Zeit in seiner Nähe zugebracht hatte. Ich war nicht sicher, ob er mich angesprochen hatte.
„Findest du nicht auch?“ Hatte er. Sein Blick traf mich, wild, direkt.
„Was genau meinst du?“ Schon bei diesem Satz hatte ich meine Maskerade nicht unter Kontrolle. Ihm gegenüber gelang sie mir nicht.
„Leben in Erdlöchern. Ich will zu den Sternen, von ihrem Licht gestreichelt werden, frei sein.“ Er trug das Herz auf der Zunge und ich bewunderte ihn dafür.
Es dauerte nicht lange, bis wir uns nah kamen, ich feststellen dürfte, wie weich und zart sein Körper eigentlich war, wie frei man sich einem anderen Menschen hingeben kann, wenn es keine Fassade gibt. Die Delegation blieb mehrere Wochen und jede freie Minute verbrachten wir miteinander. Alles, was er malte, hatte Augen. Aus meiner Bewunderung wurde schnell etwas ganz anderes, ungekanntes, er entzündete mein Herz und meinen Verstand.
Es dauerte ihm zu lange, bis er unser Silo wieder verlassen konnte. Doch als es soweit war, brauchte es nur eine Frage: „Kommst du mit?“ Ich ergriff seine Hand ohne zu zögern. Ich ging ohne zurückzublicken.
dazwischen
Jahre vergingen. Wir zogen von Silo zu Silo, boten unser Wissen und unser Können an, wurden bekannter. Die Sphäre zu wechseln, erfordert Einfluss, harte Arbeit, eine große Gegenleistung. Sein Traum wurde wahr, auch wenn harte Kämpfe notwendig waren. Gemeinsam schafften wir es. Wir fanden genug mächtige Leute, konnten ihnen klar machen, was wir zu bieten hatten und wurden letztlich mitgenommen. Ich war aufgebrochen mit so vielen Hoffnungen, wollte endlich ich selbst sein, wollte mit ihm frei sein. Wir tauschten eine kleine Kapsel unter der Erde gegen eine kleine Kapsel im Weltraum. Doch das Licht der Sterne in seinen Augen ließ alles leuchten und eine Weile war es gut. Wir lebten, schläfenparallel, miteinander und mit der Gemeinschaft. Hierher kamen viele, die sich unten falsch gefühlt hatten. Hier oben musste niemand eine Maske tragen, die Gedanken hatten mehr Raum, die Liebe mehr Möglichkeiten.
Doch die Zeit ist ein gefräßiges Tier. Sie nimmt sich einzelne kleine Stücke bis das Glück verschwunden ist. Er veränderte sich, schleichend. Ich bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken. Hatte er unten gesagt, was er dachte, gefühlt, was er wollte, verschloss er sich hier immer mehr. Große Gefühle in Verwahrungshaft. Die Freiheit, alles zu sein, schien ihn zu lähmen, seine Kreativität verschwand und hinterließ ein Loch in ihm. Das Ende der netten Worte, das Gift in unserer Sprache, jeden Tag ein bisschen mehr, sodass der Streit langsam größer wurde, unter der Oberfläche kochte, bis uns alles um die Ohren flog und ich nicht mehr wusste, was eigentlich geschehen war. Ein Wille, noch kein Weg. Es sollte aufhören, das Unterschwellige, die Worte, die immer um Millimeter am Eigentlichen vorbei schrammten. Doch wie sollte ich es anstellen? Das ehrliche Gespräch, das ich vorschlug, das ich wirklich wollte, war blinde Hoffnung, die zu Horror wurde. Am offenen Herzen, meinem, das ich vor ihm auf den Tisch gelegt hatte, fiel es ihm so leicht mich wegzustoßen, dass ich ihn nicht wiedererkannte. Wer auch immer mir in unserer Küchennische gegenüber saß, war nicht der Mann, mit dem ich hergekommen war. Mein Kampf war nicht verloren, er war von Anfang an aussichtslos gewesen. Zurück ins Schneckenhaus, ganz allein. Eine andere Wahl blieb mir nicht.
jetzt
Nun sitze ich in der Rundung der Tür, die zu der Wohneinheit führt, die weiterhin seine ist. Er straft mich mit Schweigen, als wäre ich nicht da. Ein Zustand, in den ich nur unter Schmerzen zurückkehre. Ich bin dankbar, dass wir ein Sofa haben, auf dem ich die letzten Wochen schlafen konnte. Im Schneckenhaus kann mir seine Kälte nichts anhaben. Doch auf Dauer ist diese rotierende Schönheit zu klein für uns beide. Ich werde zurückkehren zum Anfang. Die letzte Landung meines Lebens. Nur wenige Flüge führen zur Erde, ich konnte einen ergattern. In ein paar Stunden werde ich die Sterne nicht mehr sehen können. Noch einmal lasse ich den Blick schweifen über das, was mein wahres Zuhause hätte sein sollen. Das Sternenlicht streicht sanft über mein Gesicht, als wollte es mich aufhalten. Ich weiß den Versuch zu schätzen, doch meine Entscheidung ist gefallen.
Dies wird das Jahrhundert unter der Erde sein.
Bildquelle: https://dautelfoto.de/fotogalerie/
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